Thais Geschichte

Vor einer Woche ist die Mutter von Thais gestorben. Nun sitzt das kleine Mädchen mit den schönen schwarzen Haaren an meinem Pult und bittet um Malstifte. Zielstrebig nimmt sie die bunten Filzfarben, guckt in die Luft, dann aufs Papier und malt. Zuerst entsteht eine Frau, dann eine Blume, sonnig und warm. "Da ist meine Mutter", sagt sie stolz. Ich stutze. Wie kann sie solche Farben und eine solche Fülle mit ihrer Mama verbinden? Sonja, die Mutter, wog nur noch 38 kg, als sie in unserer "Casa da paz" die letzten Tage ihres Lebens verbrachte. Aids und Drogen hatten ihren Körper aufgezehrt. Sie hatte keine Kraft mehr finden können, der Sucht entgegenzuwirken, obwohl sie ihre drei Töchterchen über alles lieb hatte. Gemeinsam hatten sie das Schicksal der Favela in einer windigen Bretterbude durchgestanden. Und als der Vater an Aids starb teilten sie auch die Ungeborgenheit der Straße. Thais und ihre zwei Schwestern konnten der Brutalität der Straße nicht entkommen.

Mit ihren sechs, acht und zehn Jahren wußten sie schon um die Anziehungskraft ihrer Kinderkörper. Hineingezwungen in die Prostitution, in Diebstähle und in Raubüberfälle waren sie mit dem bitteren Geschmack ihres Lebens längst vertraut. Sie kannten sich in jeder Ecke der Gaststätten aus, wo nach Betriebsschluß die überreste noch zu ergattern waren und wußten genau Bescheid, in welchen Stadtvierteln welche Suppenküchen noch Nahrung bereithielten.Sie kannten die bestplazierten Ampeln, wo man sich für kleine Dienste wie Scheibenputzen oder den schnellen Verkauf von Früchten, Süßigkeiten oder Zeitschriften etwas Kleingeld ergattern konnte. Und sie verstanden es vorzüglich mit Rasierklingen im Gedränge der Busse und Metros die gewinnträchtigen Hosentaschen aufzuschlitzen. Sie waren flink, unternehmungslustig und ehrgeizig - alle drei. Aber sie wollten vor allem Sonja helfen. Sie mußten für die kranke Mutter sorgen. Ohne Mutter war das Waisenhaus fällig, diese Geburtsstätte des ewigen Unglücks. Und das mußten sie auf jeden Preis vermeiden.

Dann geschah es. Thais und ihre zwei Schwestern wurden bei einer Razzia von der Polizei gefaßt. Und dann wurde auch noch die Mutter aufgegriffen. Mur weil Sonja dem Tode näher stand als dem Leben wurde der kleinen Familie gestattet, zu uns auf die "Terra da promessa" zu ziehen, auf unser wunderschönes "Land der Verheißung", wo sie ein hübsches Häuschen bekamen. Doch wir mußten Sonja sehr bald in unser Hospiz bringen. Sie starb in unseren Armen.

Thais zeichnet. Sie erschafft ihre Mutter. Die verblaßte Sonja bäumt sich über ihrem roten Schoß in gelber Fülle auf: ein Muttertier mit starkem Rücken und schwarz, rot und braun gezeichneten Wellen der Zuwendung. Aufrecht steht diese Mutter in den Regenborgenfarben, als ginge sie mit einem neuen Leben schwanger. Und daneben entsteht der Vater. Sie malt eine farbig gewundene Raupe, deren Schmetterlingsflügel über den drei Blümchen der Töchter schon sichtbar aufschwingen. Ja, er wird wiederkommen, der Vater, durchdrungen von geheimen Kräften, ein Bote der jenseitigen Welt, ein bunter Phönix aus der Asche. Im Flugrhythmus seiner Arbeit wird er spielerisch und tanzend vom Muttertier Besitz ergreifen, von einer Welt, die er nie ganz kennnenlernen konnte. Und er entrollt den Rüssel und versenkt ihn tastend in die hochstehende Blüte.

Thais strahlt. Ihr Ursprung ist zum Vorschein gekommen. Er lebt. Und sie schenkt mir die Zeichnung. Sie schenkt uns alles, was sie hat. Sie ist die Künstlerin des Lebens.


Stern der Hoffnung
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